„Achtung! Sie verlassen nun die Komfortzone“ stand in großen, grellen Lettern an einer überdimensionalen Warntafel am Ende des Weges. Mein Leben und ich hatten uns bis hierhin durchgeschlagen, durch Dickicht und Gestrüpp, denn feste Wege gab es nicht. Wenn wir unterwegs Leute nach der Grenze der Komfortzone fragten, zuckten sie entweder mit den Schultern oder winkten eilig ab, als ginge es um ein Gebiet, in dem man sich besser nicht aufhielte. Doch wir waren unserem Gefühl gefolgt und nahmen die zunehmend unbequemer werdenden Wege, bis wir schließlich an diesem verlassenen Grenzposten ankamen. Eine Schranke, ein heruntergekommenes Wächterhäuschen und ein Grenzstein markierten den Übergang vom Land der Gemütlichkeit und Gewohnheit zum Land der unsicheren Möglichkeiten.
„Na bitte, da wären wir“, stellte mein Leben zufrieden fest, „war doch gar nicht so schwer.“ In diesem Moment trat aus dem winzigen Verschlag ein grimmig blickender Mann mit Schnauzbart, der seine altertümliche Uniform zurechtrückte und uns musterte. Offensichtlich der Grenzwächter. „Ham’se sich verlaufen?“ fragte er, als ob die bewusste Entscheidung für eine Grenzüberschreitung völlig unrealistisch war. „Nein, nein“, erwiderte mein Leben und fügte schelmisch hinzu: „wir wollen mal rübermachen.“ Dabei lachte es grunzend über seinen eigenen Witz. Den Grenzwächter beeindruckte das wenig: „Na wenn’se meinen. Der Spaß wird ihnen schon noch vergehen.“ Mein Leben wurde sofort wieder ernst und auch ich schaute etwas skeptisch auf die andere Seite der Schranke. Doch ich konnte nichts erkennen. Eine Wand aus Milchglas blockierte den Blick auf das, was sich wohl in diesem ominösen Land hinter dem Komforthorizont verbarg.
„Dann isses aber meine Pflicht, sie auf die Gefahren hinzuweisen“, sagte der Schnauzbart und zog eine Broschüre aus seiner Brusttasche. „Bitte lesen’se dit aufmerksam durch.“ Er reichte uns das Papier. ‚WARNHINWEIS‘ war darauf zu lesen und darunter eine Liste mit potentiellen Gefahren: „Mit dem Verlassen der Komfortzone verlassen Sie gewohntes und sicheres Gebiet. Der Eintritt in die Gefahrenzone erfolgt eigenverantwortlich und bedeutet ein nicht vorhersagbares Risiko. Sie müssen mit dem Auftreten von Unerwartetem und Unplanbarem rechnen und demzufolge mit erhöhter Anstrengung und Unbequemlichkeit. Außerdem werden Sie in hohem Maße mit Ängsten konfrontiert. Der Aufenthalt in der Gefahrenzone erfordert ständige Überwindung. Zutritt erhält nur, wer über seinen eigenen Schatten springt. Für eventuelle Schwankungen ihres Wohlbefindens wird keine Haftung übernommen.“
Ich ließ den Zettel sinken. „Ähm, wollen wir nicht vielleicht doch lieber hier bleiben?“, fragte ich vorsichtig, „Ich meine, es lebt sich doch ganz gut hier.“ „Ach Quatsch, den Mutigen gehört die Welt“, flötete mein Leben. „Aber hier weiß ich, was ich hab. Wozu muss ich mich denn unnötigen Risiken und Anstrengungen aussetzen?“ „Weil Bequemlichkeit dich nicht weiter bringt. Neue Erfahrungen kannst du nur da draußen machen.“ Mein Leben deutete auf das unsichtbare Gebiet hinter der Schranke. Mir war nicht wohl dabei: „Aber da weiß ich doch gar nicht, was mich da erwartet.“ „Eben“, sagte mein Leben, „das macht es ja so spannend. Denn stell dir vor, es könnten ja auch wundervolle Dinge passieren. Unerwartet ist nicht immer negativ. Du könntest neue Impulse bekommen, die dich inspirieren, Menschen treffen, die dich begeistern, Erlebnisse sammeln, die dich beflügeln. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“ „Kann schon sein“, erwiderte ich, „aber der Einsatz ist ziemlich hoch und der Gewinn nicht garantiert.“ „Siehste“, schaltete sich der Grenzwächter ein, „geht schon los mit den Ängsten. Also für mich wär dit nix. Ick mach den Job hier seit 36 Jahren und ick bin zufrieden. Ick brauche die Aufregung nich. Ick hab‘ lieber meine Ruhe.“ „Naja, zur Ruhe kann man ja immer wieder zurückkehren“, sagte mein Leben, „die Komfortzone als Basislager sozusagen. Aber zwischendurch sollte man schon das ein oder andere Abenteuer erleben.“ „Ach, dit ganze Tamtam, braucht doch keener.“ Der Herr in Uniform war nicht zu überzeugen. „Tja“, meinte mein Leben, „das Problem ist, dass Adrenalin und Dopamin leider nur außerhalb der Komfortzone gehandelt werden.“ „Mir ist dit ausländische Essen sowieso immer suspekt“, sagte der Schnauzbart und schaute auf die Uhr. „Mittagszeit, ick hol mal meine Stulle.“
Mein Leben und ich standen an der Schranke und schauten ins Ungewisse. Ich verspürte ein wenig Abenteuerlust in mir aufsteigen, aber eine Sache wollte ich noch wissen. „Was genau bringt mir das?“, fragte ich und mein Leben blickte mich strahlend an. „Was dir das bringt? Nun, um es kurz zu sagen: Wachstum, Erfahrungen, Glücksgefühle, Erinnerungen.“
„Also gut, dann lass es uns wagen. Was kann uns schon passieren?“, mutig wendete ich mich zum Aufbruch. „Jedenfalls nichts Schlimmes“, antwortete mein Leben und pfiff nach dem Grenzwächter. Dieser kam kauend und mit seiner Stulle in der Hand aus seinem Verschlag geschlendert und schaute fragend. „Hätte der Herr wohl die Güte, uns die Schranke zu öffnen?“, sprach mein Leben salbungsvoll. Der Angesprochene bekam große Augen und hörte mit dem Kauen auf: „Echt jetze?“, mampfte er. „Jawoll, auf, auf!“, rief mein Leben. „Aber halt“, der Grenzwächter wurde ernst, „Passkontrolle. Ihr müsst erst über euren Schatten springen.“ Ich hatte keine Ahnung, wie das funktionieren sollte, aber wir positionierten uns vor unserem Schatten und auf drei sprangen wir gemeinsam. Der Schatten blieb tatsächlich hinter uns. „Ihr meint es wirklich ernst“, staunte der Grenzkollege, „na denn gute Reise, die Herrschaften! Da bin ick ja mal gespannt!“ Er kurbelte die Schranke hoch und winkte uns hinterher, während wir abenteuerlustig die ersten Schritte ins Unbekannte machten.
Auf magische Weise eröffnete sich plötzlich vor uns der Weg. Am Wegesrand tauchten jubelnde Menschen auf, die uns anfeuerten und wie bei einem Marathonlauf kleine Trinkflaschen herüberreichten. Wie sich herausstelle, waren in diesen Fläschchen unsere ersten wohldosierten Rationen Adrenalin.
Anders als erwartet war der Weg eben und ohne Hindernisse, die gefüchteten Gefahrenstellen waren nirgends erkennbar, stattdessen wurde unser Gehirn geflutet mit neuen positiven Eindrücken. In unserem Kopf ratterte, blitzte und zischte es, wir konnten förmlich spüren, wie im Sekundentakt neue Synapsen gebildet wurden. Mit jedem Kilometer überraschten wir uns selbst. Wir probierten Neues aus. Wir kamen mit Menschen ins Gespräch, wo wir doch dachten, wir seien schüchtern. Bei der Routenplanung ließen wir uns von unserem Gefühl leiten, um dabei festzustellen, zu welch wunderbaren Orten uns das führte. Passende Transportmittel und Herbergen zu finden, sahen wir als Herausforderung, nicht als Hürde. Sich in diesem fremden Land alleine durchzuschlagen und zu merken, wie einfach das war, reichte schon, um jegliche Ängste vergessen zu lassen. All die Gespenster und Monster, gegen die wir glaubten kämpfen zu müssen, hatten sich in Luft aufgelöst. Stattdessen begegneten uns täglich neue, wunderbare Erlebnisse. Wir machten Erfahrungen, die man nur fernab der Komfortzone machen kann. Und das Beste war: Dopamin gab es kostenlos an jeder Ecke. Aber noch etwas wurde hier reichlich ausgeschenkt: Selbstbestätigung. Das Gefühl zu wachsen. Wir hatten gewagt und wir hatten gewonnen.
Die Gefahrenzone wurde zum Abenteuerland, in das wir nun häufig Ausflüge unternahmen. „Ah, ihr schon wieder“, waren die Worte des Grenzwächters, immer wenn er uns kommen sah und für uns die Schranke hochkurbelte. Jedes Mal, wenn wir zurückkehrten und er uns fragte, was wir zu verzollen hätten, öffneten wir den großen Koffer mit den Erlebnissen, die zu unbezahlbaren Erinnerungen geworden waren und berichteten ihm ausführlich von den bunten Eindrücken, den wunderbaren Freunden, die wir gefunden hatten und der Erkenntnis, dass sich immer neue Türen öffnen, sobald man einmal den Weg eingeschlagen hat.
Irgendwann ließ er die Schranke einfach offen und winkte uns freudig und mit erhobenem Daumen durch. Und eines Tages war er nicht mehr da. Das Häuschen stand verlassener als je zuvor. Keine Spur von unserem Schnauzbart. Bis auf einen Zettel, der an der geöffneten Schranke klebte. Auf der Broschüre mit dem Warnhinweis hatte er mit Kugelschreiber eine Nachricht hinterlassen: „Wollte dann auch mal rübermachen. Danke für alles! Man sieht sich!“